Folgend werden die persönlichen Erfahrungen und Meinungen unserer Autorin Poppy Lamour wiedergegeben...
Es ist faszinierend, wie schnell Klischees getriggert werden, wenn etwas aus der Norm fällt. Und ich wage zu behaupten, dass bei kaum etwas anderem die vorurteilbehafteten Gedanken so distanzlos sind wie bei ungewöhnlichen Beziehungskonzepten. Geht es in die homosexuelle Richtung, haben viele gleich ein paar passende Stellungen im Kopf, die entweder von Ablehnung oder einem Lächeln begleitet werden, bei Polyamorie fragt man sich, wer in der Mitte liegt. Bei Letzterem höre ich auch gern mal den Ausdruck Swinger, als würde Polyamorie zwangsweise bedeuten, dass man ein Fan von Partnertausch ist.
Solche Gedanken sind ungefähr so, als würde ich mich fragen, ob sich der Schuldirektor am Wochenende gern von seiner Frau ans Andreaskreuz schnallen lässt, die Bäckerin auf Latex steht, oder mein Bankberater Natursekt mag. Oder nicht?
Ich bin nun wirklich nicht prüde, aber mindestens 90 % meiner Mitmenschen möchte ich mir nicht beim Sex vorstellen. Vollkommen egal, was ich über deren Sexualität weiß oder vermuten könnte.
Sollte nicht eine einzige Frage zu anderer Leute Beziehungen solitär im Fokus stehen? Nämlich: Erwecken meine Mitmenschen einen glücklichen Eindruck oder nicht?
Denn alles andere geht Außenstehende nichts an. Trotzdem wäre es schön, wenn mehr Austausch stattfände, damit alte Klischees nicht ständig auf Unwissen gedeihen können. Man muss ja nicht gleich fragen, wie genau das im Bett funktioniert, aber beispielsweise die Frage, warum man sich für ein polyamores Leben entschieden hat, dürfte für einen erhellenden Austausch sorgen.
Ginge es nach mir, würde die Serie Sex Education zum aufklärenden Pflichtprogramm für engstirnige Menschen zählen. Ich finde, in diesem Format wird auf charmante Weise gezeigt, dass es dieses „Normal“ im Grunde gar nicht gibt. Wenn es um Beziehungen und Sexualität geht, dann besteht die Kunst darin, auf sein Bauchgefühl zu hören und jene zu finden, mit denen alles zusammenpasst. Was ja schon schwierig genug ist. Muss man seine Energie wirklich noch darauf aufwenden, sich zu fragen, was die Gesellschaft dazu sagt?
Durch meine schriftstellerische Tätigkeit komme ich in letzter Zeit öfter mit Leuten über diese Themen ins Gespräch. Da fällt auch gern mal ein „Früher hat es das nicht gegeben.“
Was ja totaler Quatsch ist. Früher (genaugenommen bis 1994) ist vieles von dem strafbar gewesen, was es angeblich nicht gegeben hat. Aber ich will jetzt nicht zu sehr abschweifen.
Das, was es früher nicht gegeben hat, war eine Gesellschaft, die tolerant gewesen ist.
Ich kenne inzwischen trans Männer und Frauen, Menschen, die sich als omni-, pan-, bi- oder asexuell bezeichnen. Polyamore Paare, Paare, die gemeinsam ihre Sexualität mit anderen ausleben, die offen über BDSM reden oder von ihren Erfahrungen mit anderen Fetischen erzählen. Die Themen kommen auf, weil ich erotische Liebesromane schreibe, in denen explizite Szenen unumgänglich sind, aber es geht um viel mehr als Sex. Deshalb ist mir dieser Austausch so wichtig. In meinem Roman FIG, den ich unter dem offenen Pseudonym Poppy Lamour veröffentlicht habe, geht es um Polyamorie und Pansexualität. Ich wollte eine erotische Geschichte erzählen, die von tiefer Liebe, Zärtlichkeit und Gleichberechtigung geprägt ist. Die Lebensweise sollte nicht den Konflikt der Handlung darstellen, sondern den natürlichen Rahmen für sinnliche Szenen bilden. Ich mag den Gedanken, einander als fühlende Wesen zu verstehen und Anteil an allem zu nehmen. Warum sich nicht mitverlieben, wenn der Partner Schmetterlinge im Bauch hat? Oder den Liebeskummer mittragen und Trost spenden? Ohne Eifersucht oder andere Unsicherheiten, weil das Fundament der Beziehung nicht zu erschüttern ist.
Eine unserer wundervollen Eigenschaften ist, dass wir uns neu verlieben können. Nach Trennungen, selbst nach tiefer Trauer oder auch aus glücklichen Beziehungen heraus. Jemanden attraktiv zu finden und vielleicht sogar Herzklopfen zu bekommen, bedeutet ja nicht gleich, dass man alles andere stehen und liegen lässt, um neue Wege einzuschlagen. An polyamoren Beziehungen mag ich die Vorstellung, nicht alles infrage stellen zu müssen, wenn die Chemie mit einem anderen Menschen passt. Was vielleicht nach einem Schlupfloch für bequeme Personen, die sich nicht festlegen wollen, klingt, ist genau betrachtet ein Geschenk. Partnerschaften bedeuten immer Kompromisse. Man macht Zugeständnisse und Abstriche, wenn man jemanden liebt, aber oftmals fehlt einem dadurch etwas. Mit dem einen Partner oder Partnerin kann es ein sehr harmonisches Zusammenleben sein, während man mit dem oder der anderen Leidenschaft erlebt. Tiefe Liebe bedeutet nicht, dass man auch sexuell zusammenpasst. Das ist ein Druck, der durch die Medien entsteht. Wenn es um große Gefühle geht, wird in der Literatur und in Filmen unentwegt dargestellt, wie leidenschaftlich sich das äußert. Als wäre wahre Liebe der Garant für super Sex, aber das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Es wäre nur langweilig, es in der Kunst realistisch darzustellen.
Ob man nun polyamor unter einem Dach lebt oder es bedeutet, dass man unterschiedliche Personen liebt, ohne dass diese miteinander ebenfalls in einer Beziehung sind, spielt dabei keine Rolle. Durch die einvernehmliche polyamore Lebensweise können unterschiedliche Bedürfnisse gestillt werden, wovon alle Beteiligten profitieren.
Ich habe Anfang der 2000er mal einen Artikel darüber gelesen, wie gut es vielen Ehen tut, wenn jemand eine Affäre hat, weil die Fremdgehenden dadurch ausgeglichener sind und Bedürfnisse stillen, die ansonsten für Frust sorgen. Damit waren nicht unbedingt Menschen gemeint, die notorisch willkürlichen Sex anstreben, sondern jene die eine feste Affäre am Laufen haben. Im Grunde kann man es heimliche Polyamorie nennen. Es hieß, so lange es nicht auffliegt, sei es ein Gewinn für die Beziehung. Gleichzeitig sind Geheimnisse und Lügen wiederum Gift für das Miteinander. Wahrscheinlich täte es einigen Beziehungen gut, wenn die Monogamie infrage gestellt werden würde, das Problem dabei ist wohl, dass man mit dem Thema etwas anschneidet, das man nicht mehr zurücknehmen kann. Wäre es nicht schön, wenn man ohne diese Unsicherheiten über alles miteinander reden könnte?
Gesellschaftlich muss sich noch einiges tun, damit das neue Normal die Toleranz ist, ganz gleich, wie andere leben und lieben. Mit meinen Romanen möchte ich dazu anregen, der Empathie den Vorzug zu geben. Ohne die Scheu, Verständnis für andere Lebensweisen aufzubringen, kann sich jeder Horizont so viel besser erweitern.
Trägt nicht jeder etwas in sich, für das er sich wünscht, es ohne Wertungen ausleben zu dürfen? Fangen wir doch einfach bei der Liebe an und arbeiten uns dann langsam weiter vor.